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10.01.2023
Die strukturellen Herausforderungen sind historisch
Prof. Dr. Henning Vöpel
Prof. Dr. Henning Vöpel, cep | Centrum für Europäische Politik: Es ist das zweite Jahr der Zeitenwende. Auch wenn die groĂźe Rezession wohl ausbleibt, die Gasreserven uns ĂĽber den Winter bringen und die Inflation ihren Höhepunkt bald ĂĽberschritten haben könnte, bleiben die strukturellen Herausforderungen historisch: Sicherung der Energieversorgung und industriellen Basis, Kampf gegen den Klimawandel und die Klimafolgen, Investitionen in Infrastruktur und Sicherheit, Demografie und Digitalisierung. Geopolitisch und technologisch gehen zwei Superzyklen zu Ende. Das Tempo der Veränderung und die Komplexität der Aufgaben werden hoch bleiben. Es ist Zeit fĂĽr neue Ideen und eine progressive Ordnungspolitik: Wie können wir unsere Werte schĂĽtzen und zukunftsfähige Visionen entwickeln? Und welche Rolle spielt Europa dabei? Dazu ein paar Gedanken: Politik in der Polykrise Die Zeitenwende war ausgerufen, noch bevor sie verstanden war. In der Analyse der Ursachen noch unscharf, politisch in den Folgen noch diffus, ist sie dennoch offenkundig: Alles scheint gleichzeitig ins Rutschen zu geraten – wie eine Lawine reiĂźt eine Krise die nächste mit. Der gegenwärtige Zustand der Welt wäre daher mit „Krise“ wohl unzureichend beschrieben, denn es handelt sich offensichtlich um weit mehr als nur vorĂĽbergehende Störungen oder Realisationen idiosynkratischer Risiken. Adam Tooze hat hierfĂĽr den Begriff der Polykrise neu in die Debatte eingebracht. Eine Polykrise bezeichnet ein BĂĽndel von Krisen, die aufgrund ihrer vielschichtigen Wechselwirkungen eng miteinander verflochten sind, auf tiefere strukturelle Ursachen hindeuten und einen größeren systemischen Bruch markieren. Eine Polykrise lässt sich in diesem Sinne als Ordnungskrise deuten. „Ordnungen“ sollen einen stabilen Umgang mit der uns umgebenden, an sich komplexen und unsicheren Welt ermöglichen. Die teils aus Axiomen, teils aus Erfahrung abgeleiteten Deutungs- und BegrĂĽndungszusammenhänge sind hinreichend plausibel, praktikabel und als solche institutionell verankert. Wenn Ordnungen zerfallen, werden Komplexität und Unsicherheit wieder sichtbar – so wie gerade jetzt. Ordnungskrisen bilden somit den Ausgangspunkt fĂĽr neu entstehende Deutungs- und BegrĂĽndungszusammenhänge. Ausverhandelte Interessensgleichgewichte zerfallen, es kommt zu Machtverschiebungen und Konflikten. Politik in der Polykrise ist daher mehr als nur eine Frage von Resilienz oder der Gestaltung von Transformationsprozessen. Schon bei der Globalisierung, die bei allem ökonomischen Erfolg in vielen gesellschaftlichen Bereichen, wie wir heute wissen, Flurschäden angerichtet hat, ging es um mehr: nämlich um neue Ordnungen und damit letztlich um nicht weniger als einen neuen Gesellschaftsvertrag, der widerstreitende Interessen neu verhandelt, aufbrechende Konflikte neu befriedet, bedrohte (intergenerative) Freiheiten wieder schĂĽtzt, brĂĽchige Gerechtigkeit wieder herstellt. Eine Polykrise bringt daher grundlegende institutionelle, diskursive und politische Veränderungen mit sich, die an den Kern und die Substanz einer Gesellschaft gehen. Wer genauer hinschaut, dem zeigt sich ein ebensolcher Zustand der Gesellschaft: aufgewĂĽhlt, erschöpft, verunsichert.   Polykrise als institutionelle Krise: Modelle, Regeln, Sprache Eine Polykrise ist immer auch eine Institutionenkrise. Das lässt sich an verschiedenen Institutionen, ob das die Kirche, die Medien oder andere sind, nachvollziehen. Obwohl die Ziele vielfach die gleichen geblieben sein mögen, sind fast alle Institutionen auf der Suche nach einer neuen Rolle in einer sich stark verändernden Gesellschaft. „Ordnungen“ institutionalisieren sich, indem sie sich durch Sprache, Modelle und Regeln so stark etablieren, dass es irgendwann nahezu unmöglich wird, die Welt durch eine andere als die etablierte Sichtweise zu betrachten. FĂĽr Entwicklungen auĂźerhalb dieses Sichtfeldes sind wir dagegen – geradezu institutionell – blind. Die Art und Weise, wie wir beobachten, beschreiben und bewerten, hängt also maĂźgeblich von den Konventionen dieser Ordnungen ab. Nicht zuletzt deshalb sprach Thomas Kuhn von einem Paradigmenwechsel, wenn unsere in diesem Sinne regelhaften Beobachtungen und deren modellhaften Beschreibungen WidersprĂĽche zwischen dem Phänomen an sich und seiner Deutung erzeugt. Es ist empirisch gut belegt, u.a. von dem Ă–konomen Daron Acemoglu, dass in groĂźen Umbruchphasen dem institutionellen Wandel eine entscheidende Bedeutung zukommt. In einer Polykrise mĂĽssen demnach vor allem die Institutionen handlungs- und reaktionsfähig bleiben. Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass genau hierin, nämlich in der regelhaften Fortsetzung des gewohnten (und bequemen) Status quo, ein Problem liegen könnte.   Polykrise als epistemische Krise: Wissen, Diskurs, Handeln Eine Polykrise erfordert den plötzlichen Umgang mit völlig neuen, unbekannten Umständen. Das Charakteristische und zugleich Herausfordernde ist dabei, dass es fĂĽr diese neuen Umstände (noch) kein institutionelles Arrangement und (noch) keine politischen Erfahrungen gibt. Der Umgang mit unvollständigem Wissen wird daher zu einer entscheidenden Frage in der Polykrise, die in diesem Sinne eine epistemische Krise ist. Gesellschaften, zumal freie, sind komplexe Systeme vielfältiger sozialer Interaktion. In Demokratien ist der Diskurs einer, wie JĂĽrgen Habermas es nennt, „inklusiven Ă–ffentlichkeit“ die wichtigste Methode, um zu Erkenntnis und Legitimation zu gelangen. Ausgerechnet jetzt, in einer Polykrise und einem "Strukturwandel der Ă–ffentlichkeit" (Habermas), radikalisieren sich Positionen und polarisieren sich durch Lager- und Gruppendenken. Es lässt sich zeigen (vgl. z.B. Kevin Dorst, Rational Polarization), dass bei mehrdeutiger und asymmetrisch verteilter Evidenz zu bestimmten Sachverhalten die Polarisierung von Positionen als rationaler Prozess beschrieben werden kann. Der politische Gegner ist also nicht unbedingt das unmĂĽndige Opfer falscher Informationen, sondern hat womöglich gute GrĂĽnde fĂĽr seine Position. Es geht hier nicht um das Leugnen des Klimawandels, aber vielleicht liegt es ja doch im gesellschaftlichen Interesse, beispielsweise aus der Silvesternacht von Neukölln die richtigen differenzierten SchlĂĽsse zu ziehen. Und auch hier, im Diskurs einer transparenten und partizipativen, diskriminierungsfreien und in diesem Sinne „inklusiven“ Ă–ffentlichkeit, geht es um Sprache. Sprachliche Verwirrung kann zu ideologischer Verirrung und schlieĂźlich zu Polarisierung und Lagerbildung fĂĽhren. Ein aktuelles Beispiel ist die Debatte um das Verhältnis zwischen Klimaschutz und Wachstum. Die einen argumentieren, weniger Wachstum, sogar Verzicht sei notwendig, um das Klima zu retten, die anderen verlangen mehr Wachstum, um sich den Kampf gegen den Klimawandel leisten zu können. Die Debatte ist so, wie sie gefĂĽhrt wird, nutzlos und unsinnig, weil erst die Art des Verzichts oder die Form des Wachstums darĂĽber Auskunft gibt, ob damit eine Lösung verbunden ist. Jeder sprachlich konstruierte, kategorisch gefĂĽhrte Konflikt mĂĽndet notwendig in ideologische Debatten, die rational-argumentativ dann nicht mehr fĂĽhrbar sind. Dies wäre, gleich welcher Position man angehört, schlecht fĂĽr die Demokratie.  Polykrise als politische Krise: Wandel, Stabilität, Pragmatismus Eine Polykrise ist schlieĂźlich immer auch eine politische Krise. Die unverständliche Gegenwart erzeugt WidersprĂĽche, die ungewisse Zukunft Widerstände. Beides sind politisch relevante Faktoren, denn sie erzeugen eine Situation der ökonomischen und sozialen Instabilität. Stabil ist ein Gleichgewicht dann, wenn es in der Umgebung geringer Abweichungen wieder in das Gleichgewicht zurĂĽckkehrt. Nun haben wir es in einer Polykrise einerseits mit groĂźen Abweichungen und andererseits mit instabilen Dynamiken zu tun, so dass eine RĂĽckkehr zum Status quo ante weder möglich noch wĂĽnschenswert ist. FĂĽr die Politik ist das schwer erträglich. Sie mag stabile Zustände und sucht daher den kĂĽrzesten Weg aus der Krise, und der fĂĽhrt – irrtĂĽmlich – zurĂĽck ins Vertraute, statt nach vorn ins Unbekannte (The nearest exit may be in front of you). Denn in einer Polykrise geht es nicht um stabile Zustände, sondern um stabile Pfade der Veränderung zu einem weniger krisenanfälligen Gleichgewicht. Um WidersprĂĽche und Widerstände in der Polykrise zu ĂĽberwinden, gilt es, die Gegenwart aus einer besseren Zukunft zu betrachten, nicht die Zukunft aus einer blockierten Gegenwart. Das erfordert eine Perspektive fĂĽr die Zukunft und Pragmatismus fĂĽr die Gegenwart. Nicht aber Idealismus und Ideologie. Mit einiger Sorge ist zu beobachten, dass Aktivismus, der gesellschaftlich wichtig und notwendig, aber zumeist monothematisch und insoweit politisch ungeeignet ist, immer stärker in die Parlamente und Ministerien Einzug hält.  Die Zukunft ist emergent: Plädoyer fĂĽr einen mutigen Pragmatismus Welchen Weg werden wir rĂĽckblickend in der Polykrise gegangen sein? Einer, der möglich war. Einer, der möglich wurde. Die Zukunft ist emergent. Dieser simple Umstand verpflichtet zu verantwortungsvollem Handeln. Und zu mutigem Pragmatismus. Ohne Mut eröffnen sich keine neuen Wege, ohne Pragmatismus kann man sie nicht gehen. Dies ist ein Plädoyer fĂĽr die konstruktive Auseinandersetzung und gegen ideologische Grabenkämpfe, fĂĽr rationale Argumente und gegen idealistische Narrative. Es gibt nichts Gutes - auĂźer man tut es. Und nicht zuletzt: In einer Polykrise, in der vieles zerfällt und Neues entsteht, mĂĽssen das Menschliche und das Verbindende gestärkt werden. Was immer wir als Gesellschaft zu verhandeln haben werden, und es wird vieles sein, wir sollten achtsam, respektvoll, emphatisch miteinander umgehen. >> Kontakt Zum aktuellen TEEC-Impuls |
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